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Der Start ins Arbeitsleben ist aufregend, anstrengend – und oft ganz anders als geplant. In der Serie»Mein erstes Jahr im Job«erzählen Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger, wie sie diese Zeit erlebt haben. Diesmal:Charlotte*, 29, hat nach dem Medizinstudium eine Weiterbildung zur Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe begonnen.
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Zur Serie»Wer Medizin studiert, weiß, dass der Job stressig wird. Ich wollte diese Herausforderung. Und trotzdem finde ich es manchmal krass, wie hoch der Druck auf Ärztinnen und Ärzte tatsächlich ist.
Seit Februar arbeite ich als Ärztin in Weiterbildung – früher sagte man: Assistenzärztin – in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe in einer Klinik. Vor mir liegen noch etwa fünf Jahre Facharztausbildung, erst dann darf ich mich Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe nennen. Das heißt aber nicht, dass ich bis dahin nur zuschaue. Schon jetzt untersuche ich Patientinnen, mache Kaiserschnitte oder Ausschabungen und helfe, Kinder auf die Welt zu bringen. In der Regel kontrolliert zwar ein Facharzt meine Entscheidungen und beaufsichtigt meine Operationen, aber ansonsten arbeite ich selbstständig und mache die gleichen Schichten und Dienste wie die anderen Ärzte auch.
Pro Woche arbeite ich durchschnittlich 50 Stunden. Dafür bekomme ich als Grundgehalt knapp 5000 Euro brutto, durch die Zuschläge für Bereitschafts- oder Nachtdienste sind es am Monatsende aber meist etwa 1000 Euro mehr.
Hohe Verantwortung
Die Verantwortung ist von Anfang an sehr hoch. Erst diese Woche hatte ich im Nachtdienst eine brenzlige Situation. Bei einer Geburt hing das Kind mit der Schulter am Beckeneingang fest. Der Kopf war schon draußen, aber der Rest des Kindes noch in der Mutter. Mir blieben maximal zehn Minuten, bevor die Sauerstoffversorgung durch die Nabelschnur abgebrochen und das Kind erstickt wäre.
Bei mir war in dieser Nacht nur eine Hebamme. Zwar steht mir als Assistenzärztin bei einem solchen Dienst theoretisch noch eine Fachärztin zur Seite, falls ich Hilfe brauche. Die kommt aber in der Regel von zu Hause und braucht bis zu 20 Minuten ins Krankenhaus. Zu lang für diese Situation – ich musste selbst entscheiden.
Ich probierte alle Manöver, die ich im Studium gelernt hatte, hob die Beine der Patientin an, um ihr Becken zu bewegen, ging mit der Hand in ihre Scheide, um das Kind herauszuholen. Der Kopf des Babys wurde währenddessen immer blauer. Da merkte ich, dass nicht nur die Schulter festhing, sondern zusätzlich die Nabelschnur doppelt um seinen Hals und einen Arm geschlungen war.
In diesem Moment half mir die ganze Theorie aus sechs Jahren Studium nichts. In der Theorie werden solche Fälle meist schon durch das erste Manöver gelöst, das ich vorgenommen hatte. Dieses Mal nicht.
Also tat ich etwas, das in keinem Lehrbuch steht. Ich durchtrennte die Nabelschnur, griff in die Scheide und zog das Kind an den Armen heraus. Ein Arm brach, wir mussten das Neugeborene beatmen. Aber es überlebte. Als meine Fachärztin hereingerannt kam, war es schon draußen. Ich hatte Glück im Unglück – das hätte auch anders ausgehen können.
Auch eine Ärztin hat nicht auf alles eine Antwort
Dem Klischee nach haben Ärzte einen Gottkomplex. In der Realität fühlt man sich die Hälfte der Zeit wie ein völliger Versager, gerade im ersten Jahr. Medizinstudierende sind es gewohnt, auf alles eine Antwort zu haben. Man hält sich für schlau, und die Aufgaben im Studium sind so konzipiert, dass sie sich lösen lassen. Doch wenn man dann wirklich Arzt ist, hat man oft keine Ahnung, was man tun soll.
Meiner Meinung nach bereitet das Medizinstudium nicht genügend auf die realen Arbeitsbedingungen vor, vor allem nicht auf Notfallsituationen. Es gibt zwar Praktika und sogar ein Praktisches Jahr, wie viel man tatsächlich machen darf, hängt aber sehr von der Station ab. In der Inneren Medizin zum Beispiel nahm ich höchstens Blut ab, ansonsten verschickte ich nur Faxe und fragte Patienten nach ihrem Hausarzt.
Vorsprung durch Rettungsdienst
Gegenüber meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen habe ich einen großen Vorteil: Ich bekam damals nicht sofort nach dem Abitur einen Studienplatz, mein Schnitt war mit 1,5 zu schlecht. Deshalb machte ich zunächst ein Freiwilliges Soziales Jahr im Rettungsdienst und arbeitete im Anschluss anderthalb Jahre hauptamtlich als Rettungssanitäterin. Im Nachhinein bin ich froh über die Wartezeit. Bei der Arbeit im Rettungsdienst habe ich gelernt, im Notfall schnell Entscheidungen zu treffen. Mich schockiert auch nicht mehr, sehr viel Blut zu sehen. Ich werde in solchen Situationen ein anderer Mensch, der nur noch funktioniert. Instrumente holen, Blutkonserven geben, Medikamente spritzen. Das sind Sekundenentscheidungen, die ich nicht überdenke.
Wenn diese Momente vorbei sind, frage ich mich aber schon manchmal: Will ich diese Verantwortung tragen? Kann ich diese Verantwortung tragen? Und was macht das mit mir und meinem Körper?
Nachdem wir das Baby gerettet hatten, kam zum Beispiel sofort das Adrenalin-Tief. Ich wollte am liebsten heulen, aber ich hatte keine Zeit dazu. Ich hatte ja noch Dienst. Die Mutter musste genäht werden, in der Notaufnahme warteten zwei weitere Patientinnen, am Ende musste ich sogar noch in den OP und eine Nachblutung versorgen.
Eine psychologische Betreuung, um über solche Erlebnisse zu sprechen, gibt es nicht. Unterstützung bekam ich in dieser Nacht nur von zwei Kollegen in der Notaufnahme. Sie sahen, wie fertig ich war, und boten mir eine Zigarette an. Ich hatte zwar eigentlich aufgehört, aber in diesem Moment tat es gut, mit den beiden zu rauchen.
Die Gynäkologie bietet Vorteile
Einer der Vorteile von Gynäkologie und Geburtshilfe ist, dass man die Möglichkeit hat, sich in einer Praxis niederzulassen. Denn ich weiß nicht, ob ich mit 50 noch im Operationssaal stehen will. Und falls ich eigene Kinder haben sollte, möchte ich nicht mehr fünf- bis sechsmal im Monat über Nacht weg sein.
Doch erst einmal bin ich trotz aller Belastungen sehr glücklich mit meinem Job. Ich bin gern im Kreißsaal, ich bin gern im OP, ich mag es, mit den Frauen zu sprechen. In der Gefäßchirurgie, wo ich früher mal hinwollte, erlebt man hauptsächlich Tod und Verderben. Jetzt begegne ich auch gesunden Leuten, die für ein schönes Ereignis ins Krankenhaus kommen.«
Das Medizinstudium
Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern kann man Humanmedizin in Deutschland ausschließlich auf Staatsexamen studieren. Die meisten größeren Universitäten bieten den Studiengang an. Er ist bundesweit zulassungsbeschränkt, die Bewerbung erfolgt über das Portal hochschulstart.de. Um über die sogenannte Abiturbestenquote zugelassen zu werden, braucht man in der Regel eine sehr gute Abschlussnote. Es gibt aber auch die Möglichkeit, über andere Auswahlverfahren aufgenommen zu werden.
Das Medizinstudium dauert sechs Jahre und drei Monate, davon wird ein Jahr als Praktisches Jahr in einem Krankenhaus oder einer Praxis absolviert. Bei erfolgreichem Abschluss des Studiums erfolgt die Approbation, also die Berufserlaubnis als Arzt.
Die Facharztausbildung
Mit der Approbation ist die medizinische Ausbildung allerdings nicht beendet. Wer in Deutschland als Ärztin arbeiten will, muss sich auf ein medizinisches Fachgebiet festlegen. Das kann die Gynäkologie sein, aber auch Allgemeinmedizin, Innere Medizin oder Chirurgie.
Die Facharztausbildung dauert in der Regel fünf bis sechs Jahre und findet in einer Klinik oder einer qualifizierten Praxis statt. Währenddessen durchläuft man verschiedene Stationen und arbeitet aktiv bei Diagnose und Operationen mit. Die Tätigkeit ist bezahlt.
Am Ende der Ausbildung steht die Facharztprüfung, eine mündliche Prüfung bei der Landesärztekammer. Wer die besteht, kann sich zum Beispiel als Arzt niederlassen oder eine Stelle in einem Krankenhaus annehmen.
* Die Protagonistin möchte anonym bleiben, ihr Name ist der Redaktion bekannt.
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Korrekturhinweis:In einer früheren Versiondes Textes stand, die Protagonistin habe als Notfallsanitäterin gearbeitet. Tatsächlich arbeitete sie als Rettungssanitäterin. Wir haben den Fehler korrigiert.